„Schon im Kindertheater bekam ich ganz heiße Ohren“ sagt Anne Müller einmal in einem Interview mit der F.A.Z. und dass aus der jungen Zuschauerin mit Hitzewallung selbst einmal eine Schauspielerin wird, das kann man nur als Glücksfall bezeichnen – für sie selbst und für ihr Publikum. 1982 im sächsischen Rochlitz geboren, wächst sie in einem Mehrgenerationen-Haushalt aus Frauen auf, zu dem ihre Mutter, eine spätere Lehrerin, und ihre Großmutter gehören. Die drei Frauen haben eine sehr enge Bindung, halten zusammen, auch wenn das Geld mal knapp wird. Annes Großmutter fördert das musische Talent ihrer Enkelin und kauft der 12-Jährigen ihr erstes E-Piano; fünf Jahre später finanziert sie ihr einen einjährigen Auslandsaufenthalt in Norwegen. Seitdem spricht Anne nicht nur fließend norwegisch, sondern sie belegt in dieser Zeit an der Schule auch das Hauptfach Theater.
Nach dem Abitur (mit Auszeichnung) geht sie für ein Jahr in die Schweiz, um im Graphikbüro ihrer Tante zu arbeiten. 3-D-Animationen und Programmieren findet Anne zwar bis heute interessant, aber es ist nicht das, was sie beruflich machen will, auch der japanische Kampfsport Aikido, den sie in der Schweiz für sich entdeckt, reicht nicht aus, um ihr Maß an körperlicher Expressivität ausreichend zur Entfaltung zu bringen. Nun folgt, was wirklich für sie passt: eine Ausbildung an der „Hochschule für Musik und Theater“ in Hannover zwischen 2002 und 2006.
Hier kommt Anne Müller in Kontakt mit Schauspiel-Kolleg*innen wie Clemens Schick, Oda Thormeyer, Katharina Lorenz und Oliver Masucci, und sie arbeitet mit namhaften Regisseuren zusammen wie Wilfried Minks, Annette Pullen oder Jarg Pataki. Anne Müller selbst sagt, dass sie in dieser Zeit die Körperarbeit schätzen gelernt hat – was man ihr bis heute anmerkt, außerdem die Absage an irgendwelche Doktrin und Theaterstile. Vielmehr fördern ihre Lehrer und Lehrerinnen genau das in ihr, was ihr vorbehaltlos entspricht: das totale Aufgehen in ihren Rollen, das natürliche, ungekünstelte Spiel.
2005 wird der Regisseur Armin Petras auf das Ausnahmetalent aufmerksam und möchte Anne ans Berliner Maxim Gorki Theater holen. Sie lehnt ab und geht stattdessen ans Schauspiel Frankfurt. Doch auch dort hat Armin Petras die Gelegenheit, die Nachwuchs-Künstlerin zu inszenieren, außerdem u.a. Florian Fiedler und Sebastian Baumgarten.
2008 wird Anne Müller von der Fachzeitschrift „Theater heute“ zur „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“ gekürt für ihre Rolle der jungen Gertrud in Armin Petras Inszenierung von „Gertrud“ (nach Einar Schleef). Über ihre Darstellung schreibt die F.A.Z.: „Anne Müller spielt wie in Trance schmerzhaft intensiv.“ Die Frankfurter Neue Presse nennt sie „hoch begabt“. Und der Theaterkompass meint: „Anne Müller auf der Bühne zu sehen, ist immer ein Erlebnis.“
In den darauffolgenden Jahren steht sie u.a. auf den Bühnen von Maxim Gorki Theater, Hamburger Schauspielhaus, Münchner Kammerspielen, Hamburger Kammerspielen und Staatsoper Hamburg. Sie arbeitet immer wieder mit Armin Petras zusammen, aber auch mit Regisseuren wie Johann Simons, Falk Richter, Jan Bosse, Bastian Reiber und Frank Castorf.
Dass auch das Kino auf sie aufmerksam wird, ist da nur eine Frage der Zeit: Sie sammelt 2008 erste Erfahrungen vor der Kamera, als Detlev Buck sie für SAME SAME, BUT DIFFERENT besetzt, nachdem er über ihre Auszeichnung als Nachwuchsschauspielerin in der Presse gelesen hatte. Auch das Fernsehen entdeckt Anne Müller, 2013 wird ihre erste TV-Arbeit ausgestrahlt, eine Rolle im Münchner „Polizeiruf 110 – Der Tod macht Engel aus uns allen“ mit Matthias Brandt und Lars Eidinger unter der Regie von Jan Bonny. Weitere Fernseh- und Streamingrollen schließen sich an, u.a. für „Einmal Hallig und zurück“ (Regie: Hermine Huntgeburth/NDR), „Tanken – mehr als super“ (Regie: Martina Plura/ZDFneo), „Dogs of Berlin“ (Regie: Christian Alvart, Netflix) oder „Babylon Berlin“ (Regie: Handloegten, Borries, Tykwer/ARD,Sky).
2022 wird Anne Müller in mehreren Kinoproduktionen zu sehen sein, und zwar u.a. in BAGHEAD (Regie: Alberto Corredor), WANN WIRD ES ENDLICH SO, WIE ES NIE WAR? (Regie: Sonja Heiss) und in SISSI UND ICH (Regie: Frauke Finsterwalder). Für eine Ausstrahlung bei Netflix steht außerdem „Der Parfumeur“ an, unter der Regie von Nils Willbrandt.
Anne Müller sagt über ihr berufliches Können, dass sie auch immer wieder aus ihrer Kindheit und Jugend schöpfen kann, die schwierig, aber auch schön zugleich waren, eben ein Reservoir verschiedenster Lebenserfahrungen. Daher liegt ihr beides so sehr, das Harte und das Weiche, das Brutale und das Gefühlvolle, ob als erbarmungslose Auftragskillerin oder bis zur Selbstaufgabe liebende Mutter. Krasse Brüche darstellen, das kann sie.
Man wird Anne Müller weiterhin in spannenden und auch abgründigen Rollen erleben, in denen sie ihre beeindruckende Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Und darin wirkt sie – wie eine Intendantin es einmal formulierte –, „als trüge sie ein Geheimnis in sich“.